Deutscher Bundestag
15. Wahlperiode
Drucksache 15/1345
01 . 07 . 2003
Antrag
der Abgeordneten Helge Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, Dr. Wolf Bauer, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Dr. Christoph Bergner,
Monika Brüning, Verena Butalikakis, Vera Dominke, Dr. Hans Georg Faust, Axel E.
Fischer (Karlsruhe-Land), Holger Haibach, Michael Hennrich, Völker Kauder,
Kristina Köhler (Wiesbaden), Michael Kretschmer, Helmut Lamp, Werner Lensing,
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Maria Michalk, Uwe Schummer, Horst Seehofer,
Matthias Sehling, Marion Seib, Matthäus Strebl, Andreas Storm, Jens Spahn,
Gerald Weiß (Groß-Gerau), Annette Widmann-Mauz und der Fraktion der CDU/CSU
Klinische Prüfung in Deutschland entbürokratisieren
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag steht fest:
Deutschland hat seine Stellung als ehemals weltweit führender Forschungs-
und Entwicklungsstandort für pharmazeutische Produkte verloren und hegt nur
noch im Mittelfeld.
Von den 130 Forschungsstandorten der 30 umsatzstärksten globalen pharma-
zeutischen Unternehmen hegen nur noch 10 in Deutschland, während 52 in den
USA, 21 in Japan und 16 in Großbritannien angesiedelt sind.
Die schlechten Rahmenbedingungen Deutschlands für klinische Prüfungen zei-
gen sich in zahlreichen Investitionen von Unternehmen im Ausland und in deren
verstärkter Zusammenarbeit mit ausländischen Zulassungsbehörden im Rahmen
klinischer Prüfungen sowie der geringen Zahl von klinischen Prüfungen in
Deutschland im Vergleich zu Schweden, Großbritannien oder den Niederlanden.
Die Gründe hegen auch in komplizierten, langwierigen Zulassungsverfahren von
klinischen Prüfungen und deren Ethikkommissionensverfahren in Deutschland.
Deutsche Kliniker betreiben immer weniger Primärforschung, nicht zuletzt
durch den Kostendruck und die Personalnot in den Kliniken wird die Forschung
in Deutschland immer mehr zur „Feierabendforschung“.
Aufgrund der hohen Entwicklungskosten von Arzneimitteln von durchschnitt-
lich 800 Mio. Euro führen pharmazeutische Unternehmen die klinische Prüfung
maßgeblich in den Ländern durch, in denen die besten Rahmenbedingungen bei
höchster Planungssicherheit gegeben sind. Ziel ist es, dass pharmazeutische
Unternehmen neue Investitionen in Deutschland tätigen.
Eine Hürde hierbei stellen die zahlreichen Ethikkommissionen dar, die bei mul-
tizentrischen klinischen Prüfungen aufgrund von Standes- bzw. Dienstrecht je-
weils zusätzlich befragt werden müssen. Diese verschiedenen Kommissionen
verlangen unterschiedliche Angaben und bewerten nach unterschiedlichen Kri-
terien. Dies birgt Unwägbarkeiten für die Planung und Koordination von klini-
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scher Prüfung in Deutschland in sich und fuhrt zu unnötigen Verzögerungen be-
reits vor der Durchführung der klinischen Prüfung.
Die EU-Richtlinie 2001/20/EG ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, An-
forderungen an die klinische Prüfung nicht nur zu harmonisieren, sondern auch
zu vereinfachen und die Planungssicherheit zu erhöhen. Vor allem soll eine
effiziente Koordinierung multizentrischer Prüfungen innerhalb der EU erreicht
werden, bei gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit der Prüfungsteilneh-
mer. Die Gesundheit und die Wahrung der Rechte der Probanden hat unbeding-
ten Vorrang vor allen anderen Interessen.
Dabei ist von großer Bedeutung, dass zukünftig nur noch ein einziges zustim-
mendes Votum einer Ethikkommission je Mitgliedstaat für den Beginn einer
klinischen Prüfung vorgesehen ist.
Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten in einigen Punkten Spielraum in der
Umsetzung. Einige Mitgliedstaaten haben bereits angekündigt, die Umsetzung
der EU-Richtlinie in nationales Recht zu nutzen, um einen Standortvorteil im
Vergleich zu anderen EU-Staaten zu erlangen. Für die Sicherung und den Aus-
bau des Forschungs- und Entwicklungsstandortes Deutschland ist es von ent-
scheidender Bedeutung, die Regelungen in den flexiblen Bereichen der EU-
Richtlinie so in nationales Recht umzusetzen, dass sie innerhalb Europas einen
Standortvorteil bedeuten.
Bearbeitungsfristen für Ethikkommissionen und Genehmigungsbehörden sind
ein entscheidendes Kriterium für die Attraktivität eines Standortes für pharma-
zeutische Forschung und Entwicklung im Vergleich zu anderen Staaten. Dies gilt
insbesondere bei der Durchführung und Koordination von multizentrischen kli-
nischen Prüfungen. Die derzeitige Praxis, dass es bei multizentrischen Prüfun-
gen der Zustimmung mehrerer nach Landesrecht eingerichteter Ethikkommis-
sionen bedarf, führt zwangsläufig zu Verzögerungen des Beginns der klinischen
Prüfung und stellt somit einen Standortnachteil dar. Die Zahl der zustimmenden
Ethikommissionen bei mulitzentrischen Prüfungen ist entsprechend den Anfor-
derungen der EU-Richtlinie auf eine einzige pro Mitgliedstaat zu begrenzen,
Fristen sind möglichst kurz zu gestalten. Die Ethikkommissionen sollten bun-
desweit eingerichtet werden und sollten sich auf bestimmte Gebiete speziali-
sieren können (z. B. Kinder, Nichteinwilligungsfähige, bestimmte Indikations-
bereiche), die dann mit entsprechend hoher Kompetenz beraten werden können.
Klinische Prüfungen an Kindern sind notwendig, um auch dieser besonders
schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppe, die sich psychologisch und physiolo-
gisch von Erwachsenen unterscheidet, die Teilhabe am medizinischen Fortschritt
zu ermöglichen. Um Kindern einen besonderen fachkundlichen Schutz zu gewäh-
ren, ist die Einrichtung von speziellen Leitethikkommissionen sachdienlich.
Um den notwendigen strengen Schutz der nichteinwilligungsfähigen erwachse-
nen Personen zu gewährleisten, sind eigens hierfür zuständige Leitethikkom-
missionen mit entsprechender Expertise einzurichten.
Die Forschung an Kindern und nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen zu
gruppennützigen Zwecken wirft erhebliche ethische und verfassungsrecht-
lichen Bedenken auf. Die medizinische Notwendigkeit und rechtliche Zulässig-
keit solcher gruppennütziger Forschung muss den Vorgaben des Grundgesetzes
entsprechen und bedarf daher weiterer Prüfung.
Allgemeinen Ethikkommissionen fehlt aufgrund der geringen Zahl klinischer
Prüfungen in Zusammenhang mit Arzneimitteln für Gentherapie, somatischer
Zelltherapie, einschließlich xenogener Zelltherapie, sowie mit allen Arzneimit-
teln, die genetisch veränderte Organismen enthalten, die Expertise zur sachge-
rechten Beurteilung solcher Prüfungen. Auch hier sind spezialisierte Ethikkom-
missionen notwendig.
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Das Notifizierungsverfahren im AMG hat sich bewährt und sollte zukünftig
weitgehend beibehalten werden. Dabei hat sich als praxisfreundlich die feh-
lende Wartezeit beim Notifizierungsverfahren erwiesen.
Die in der EU-Richtlinie genannten Fristen, in denen mit dem Beginn der klini-
schen Prüfung begonnen werden kann, dürfen nicht durch andere Gesetze und
Genehmigungsvorbehalte, wie z. B. Strahlenschutzverordnung und Röntgen-
verordnung, ausgehebelt werden. Die zeitliche Vorgabe in Artikel 9 Abs. 4 der
Richtlinie gilt für den gesamten Prozess vor der klinischen Prüfung, einschließ-
lich etwaiger weiterer Genehmigungsvorbehalte und Sonderprüfungen.
Nach § 72a AMG ist für die Rinfuhr von Arzneimitteln aus Drittländern ein
GMP-Zertifikat der zuständigen deutschen Behörde erforderlich. Es ist zwangs-
läufig, dass die Ausstellung eines solchen Zertifikats bürokratie- und zeitauf-
wendig ist. Die EU-Richtlinie enthält für klinische Prüfpräparate keine Forde-
rung nach behördlichen GMP-Zertifikaten für den Import aus Drittländern. Die
derzeitige Anforderung des AMG geht daher über das EU-Recht hinaus.
Die Richtlinie 2001/20/EG hätte bereits zum 1. Mai 2003 in nationales Recht
umgesetzt werden müssen. Eine schleppende Umsetzung führt zu fehlender
Planungssicherheit in der klinischen Prüfung.
Die meisten Ethikkommissionen akzeptieren bereits heute englischsprachige
Unterlagen mit Ausnahme der Einverständniserklärung, der Patienteninforma-
tion und des Antragsformulars. Im Rahmen der zunehmenden Globalisierung
von klinischen Prüfungen für ein Produkt würde die generelle Aktzeptanz eng-
lischsprachiger Unterlagen eine erhebliche Vereinfachung für pharmazeutische
Unternehmen darstellen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
• den Schutz und die Integrität des Menschen in klinischen Prüfungen zu ge-
währleisten;
• die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln in Deutschland zu för-
dern;
• ein innovationsfreundliches Klima für die klinische Prüfung zu schaffen;
• bürokratische Hemmnisse, die der klinischen Forschung im Wege stehen,
abzubauen;
• die Entwicklung des gemeinsamen Marktes der EU zu fördern und die EU-
Richtlinie 2001 /20/EG schnellstmöglichst in nationales Recht umzusetzen;
• die EU-Richtlinie derart umzusetzen, dass Gestaltungsspielräume als Stand-
ortvorteil genutzt werden und dabei ein besonderes Augenmerk auf Fristen
und bürokratische Hemmnisse zu legen;
• die Vorgabe von Artikel 7 der EU-Richtline eindeutig und klar umzusetzen,
dass nur noch ein zustimmendes Votum für den Beginn einer klinischen Prü-
fung Voraussetzung ist und bei den Ländern Sorge zu tragen, dass diese die
Regelungen der Bundesländer (Heilberufe-Kammergesetze und Kammersat-
zungen) und die dienstrechtlichen Verpflichtungen entsprechend umsetzen
werden;
• festzuschreiben, dass die Ethikkommissionen aller an der klinischen Prü-
fung teilnehmenden Einrichtungen durch Kenntnisgabe der Antragsunterla-
gen beteiligt werden;
• bei der Implementierung von Artikel 6 Abs. 5 und 7 der EU-Richtlinie, Frist
für Beratung der Ethikkommission, eine kürzere Frist als die vorgegebene
von 60 Tagen in Deutsches Recht im AMG festzuschreiben, um die Wettbe-
werbsfähigkeit Deutschlands zu verbessern;
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• die medizinische Notwendigkeit und rechtliche Zulässigkeit gruppennützi-
ger Forschung an Minderjährigen muss vor einer möglichen Regelung im
Deutschen Recht einer eingehenden ethischen und verfassungsrechtlichen
Überprüfung unterzogen werden;
• Leitethikkommissionen für klinische Prüfungen bei Minderjährigen und bei
nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen einzurichten;
• spezialisierte Ethikkommissionen für klinische Prüfungen in Zusammen-
hang mit Arzneimitteln für Gentherapie, mit somatischer Zelltherapie, ein-
schließlich xenogener Zelltherapie, sowie mit allen Arzneimitteln, die gene-
tisch veränderte Organismen enthalten, einzurichten;
• soweit wie möglich das bewährte Verfahren der Notifizierung im AMG zu
belassen, d. h. zum einen insbesondere für die in Artikel 9 Abs. 5 der Richt-
linie genannten Arzneimittel keine Genehmigungspflicht einzuführen zum
anderen nur eine Genehmigungspflicht für die in Artikel 9 Abs. 6 genannten
Produkte vorzuschreiben;
• die Regelungen der Strahlenschutzverordnung und der Röntgenverordnung
dahingehend anzupassen, dass die in der EU-Richtlinie angegebenen Fristen
zum Beginn der klinischen Prüfung tatsächlich eingehalten werden und nicht
durch anderweitige Genehmigungsvorbehalte de facto verlängert werden;
• zu überprüfen, inwieweit eine gegebenfalls erforderliche Genehmigung
nach der Strahlenschutzverordnung oder der Röntgenverordnung zukünftig
durch die Ethikkommission erfolgen kann oder Teil der Notifizierung bzw.
Genehmigung durch die zuständige Bundesoberbehörde (BfArM) werden
kann;
• im AMG die Forderung behördlicher GMP-Zertifikate zum Import klini-
scher Prüfpräparate und das Erfordernis, diese nochmals vollständig zu ana-
lysieren, zu streichen;
• im AMG festzuschreiben, dass bei den Ethikkommissionen mit Ausnahme
von Einverständniserklärung, Patienteninformation und Antragsformular die
Unterlagen auch englischsprachig eingereicht werden dürfen.
Berlin, den 1 . Juli 2003
Helge Braun
Katherina Reiche
Thomas Rachel
Dr. Maria Böhmer
Dr. Wolf Bauer
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
Dr. Christoph Bergner
Monika Brüning
Verena Butalikakis
Vera Dominke
Dr. Hans Georg Faust
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Holger Haibach
Michael Hennrich
Volker Kauder
Kristina Köhler (Wiesbaden)
Michael Kretschmer
Helmut Lamp
Werner Lensing
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)
Maria Michalk
Uwe Schummer
Horst Seehofer
Matthias Sehling
Marion Seib
Matthäus Strebl
Andreas Storm
Jens Spahn
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Annette Widmann-Mauz
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ISSN 0722-8333